Es ist Unsicherheit gemischt mit einer Like-A-Boss-Einstellung :frech1: Er sieht uns nicht als Rudelführer, sondern sich selbst und meint, er muss alles klären und uns beschützen. Dadurch ist er überfordert. Wir müssen nun daran arbeiten, diese "Last" von ihm zu nehmen, dass er weiß, er kann sich auf uns verlassen und dass wir alles klären.
Hat er diese Diagnose gestellt, noch bevor er den Hund zusammen mit euch in seiner "natürlichen" Umgebung (das heißt zu Hause und auf euren normalen Spazierwegen) gesehen hat? Wenn ja, ist diese Diagnose in der Regel Quatsch. Schon allein "Unsicherheit" und "Like a Boss" beißen sich. Das ist nicht logisch. Aggressionen resultieren nicht zeitgleich aus Unsicherheit und Selbstsicherheit - das widerspricht sich völlig. Hunde können in einigen Bereichen sicher, in anderen unsicher sein, soviel ist klar. Jeder hat Stärken und Schwächen. Wenn ein Hund aber jeden Hund anbellt, der ihm entgegenkommt, macht er das nicht, weil er zeitgleich sicher und unsicher ist. Entweder er bellt aus Unsicherheit, oder aus Gewohnheit. Er bellt sicherlich nicht aus Selbstsicherheit, denn Selbstsicherheit bedeutet Souveränität (Führungsqualität) und damit auch, den Gegenüber nicht als ernsthafte Bedrohung zu betrachten. Wer sich bedroht fühlt, ist unsicher.
Die meisten Hunde, die soziale Probleme mit Artgenossen haben, haben diese Probleme aufgrund einer massiven Überforderung. Daraus resultiert in der Regel Unsicherheit, die sich facettenreich äußern kann: Vom Winsler, der sich hinter Frauchens Beinen versteckt, über den Präventivpöbler, der schonmal vorsorglich die Klappe aufreißt, aber immer in Frauchens Nähe bleibt und eigentlich auch keine Konfrontation möchte, bis hin zum Angriff-ist-besser-als-Verteidigung-Rambo, der ohne Warnung vorprescht, kann alles dabei sein. Die Übergänge sind je nach Trigger fließend.
Für nicht wenige Hunde ist Aggression auch ein Ventil für Frust. Nie Kontakt zu anderen Hunden gewährt zu bekommen, weil man Angst hat, es passiert was, kann für das hochsoziale Tier Hund der Frust-Overkill sein. Nie kleinere Konflikte selbst austragen zu dürfen, kann Probleme erst entstehen und Selbstbewusstsein schwinden lassen (Stichwort: Helikopterhundehalter). Zu wenig artgerechte, individuelle Beschäftigung macht so einige Hunde doof im Kopf. Inkonsequenz und schwammige Regeln nehmen Hunden oft die Orientierung.
Gründe für aggressives Verhalten gibt es viele - aber es liegt situationsbezogen nicht zeitgleich an Unsicherheit und Selbstbewusstsein (im Sinne von Führungsmotivation). Aggressive "Rudelführer", die alles und jeden verbellen und überall eine Bedrohung sehen, sind nicht existent in der Welt der Canidae. Unsichere Hunde sind keine Führungsindividuen. Sie gebärden sich aggressiv, um sich zu verteidigen, eventuell auch präventiv, weil es eben sonst keiner tut. Wenn sie führen, dann weil sie es müssen und nicht, weil sie es wollen. Wenn der Hund bereits gebellt hat, dann weil das entsprechende Sicherheits/Grenzsignal des Menschen gefehlt hat. Mit der Zeit kann diese Hemmschwelle beim Hund immer geringer werden und es wird bereits gebellt, obwohl der andere Hund noch weit entfernt ist. Je schlimmer das Bellen wird, desto weiter entfernt sich der Hund von der Orientierung des Menschen, weil dieser ihm keine Orientierung gibt. Orientierung entsteht bereits zu Hause, nicht nur beim Spazierengehen.
Die Diagnose "Unsicherheit gepaart mit Like-A-Boss" ist dementsprechend allein vom logischen Standpunkt aus gesehen bereits Unsinn. Eines von beiden trifft zu - aufgrund der Schilderung und des extrem unsouveränen Verhaltens des Hundes ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Unsicherheit. Eventuell kommen Punkte wie Gewohnheit und Frust dazu, aber das kann ich nicht beurteilen, weil ich die Lebenssituation des Hundes nicht kenne.
Ebenfalls nicht beurteilen kann ich die Kompetenz des Trainers. Sofern keine Einschüchterung im Spiel war, kommen zwei Gründe infrage, warum euer Hund in den Händen des Trainers so verändert war:
1. Euer Hund war tatsächlich "geschockt". Fremde Umgebung, fremder Mensch, fremde Hunde und ihr wart nicht die primären Orientierungspersonen, sondern der Trainer. Eine Situation wie diese sieht man täglich zigfach, denn es ist überhaupt nicht ungewöhnlich, sondern tatsächlich sogar die Norm, dass sich ein Hund in den Händen einer anderen Person völlig anders benimmt, als bei seinen Besitzern. Das führt allerdings auch oft zu Fehleinschätzungen seitens des Trainers, weil er so das alltägliche Verhalten des Hundes nicht richtig zu Gesicht bekommt.
2. Der Trainer besitzt herausragende Kompetenzen hinsichtlich Timing und Konsequenz und vermittelte dem Hund mithilfe subtiler Signale einen Bewegungsrahmen, an dem sich euer Hund orientieren konnte. Regeln und Grenzen helfen Hunden, sich sicher und souverän in unserer Welt zu bewegen. Zu wissen, was erlaubt ist und was nicht und wie man sich in welcher Situation verhalten soll, bietet Sicherheit und Orientierung.
Führung ist nicht das Recht desjenigen, der führt. Sie ist das Recht desjenigen, der geführt wird. Hunde haben ein Recht darauf, dass wir sie sicher führen und ihnen Regeln geben, an denen sie sich orientieren können. Sie sind genetisch darauf selektiert worden, sich am Menschen zu orientieren und ihn als Führungsperson anzuerkennen. Diesem Führungsanspruch, den wir in hunden genetisch verankert haben, müssen wir entgegenkommen und gerecht werden. Grenzen sind dabei meiner Meinung nach so unerlässlich wie das positive Verstärken des Verhaltens, das wir sehen wollen.
Es wäre interessant, wenn du uns weiterhin von deinem Training berichten könntest.